Brief an den Bundespräsidenten - Reisegruppe Niemand
Unter dem Motto „Nahverkehr inklusive“ fuhr die „Reisegruppe Niemand“ mit der Bahn quer durch Deutschland.
Die Reisegruppe Niemand, bestehend aus fünf Reisenden mit Behinderungen, sammelte auf ihrem Weg quer durch Deutschland an 348 Zwischenhalten in allen Bundesländern Botschaften von Menschen mit Behinderungen und ihren Angehörigen, um sie am Ziel, dem Bundespräsidialamt, an Herrn Steinmeier zu übergeben.
Mit dieser öffentlichkeitswirksamen Aktion sollte der hinzugefügte Satz „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“ des Artikels 3 des Grundgesetzes in den Fokus des Bewusstseins gerückt werden.
Auch der Beirat für Menschen mit Behinderungen hat sich meinem Schreiben an dieser Aktion beteiligt und dieses der Reisegruppe Niemand mit auf den Weg gegeben.
Weitere Informationen zu der Aktion finden Sie hier: www.reisegruppe-niemand.de
Im Folgenden lesen Sie das Schreiben, welches für die Aktion verfasst wurde:
Sehr geehrter Herr Steinmeier,
als Beirat für Menschen mit Behinderungen des Landkreises Mecklenburgische Seenplatte setzen wir uns, unter dem Leitbild einer inklusiven Gesellschaft, für Chancengleichheit, Selbstbestimmung und für die umfassende Teilhabe an der Gesellschaft von Menschen mit Behinderungen ein.
Die UN-Behindertenrechtskonvention gibt klare Vorgaben und Handlungsanweisungen, wie auch in unserem Landkreis bzw. in Mecklenburg-Vorpommern das Gemeinwesen so zu gestalten ist, dass alle Menschen, unabhängig ihrer Behinderung, gleichberechtigten Zugang zu vorhanden Angeboten und Strukturen haben.
Mit Ernüchterung stellen wir immer wieder fest, dass ambitioniert gesteckte Ziele zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention nicht eingehalten oder sogar vollständig von der Prioritätenliste gestrichen werden. Auch im Hinblick auf den Maßnahmeplan zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention im Landkreis Mecklenburgische Seenplatte zeigt sich deutlich, wie weit wir von einer wirklich inklusiven Gesellschaft entfernt sind.
Noch immer wohnen Menschen mit Behinderungen gegen ihren Willen in Einrichtungen, weil sie weder eine barrierefreie bezahlbare Wohnung finden, noch die erforderliche persönliche Assistenz in einem Umfang finanziert bekommen, der ein selbstbestimmtes Leben ermöglicht.
Noch immer werden Kinder mit Behinderungen gegen ihren Willen und den Willen ihrer Eltern in Förderschulen unterrichtet, weil Regelschulen weder finanziell noch personell auf die besonderen Bedürfnisse des inklusiven Unterrichts eingestellt sind.
Noch immer arbeiten Menschen mit Behinderungen gegen ihren Willen für ein minimales Taschengeld in einer Werkstatt für behinderte Menschen, statt auf dem ersten Arbeitsmarkt. Neue Leistungen wie das Budget für Arbeit stellen für Interessierte hohe bürokratische Hürden, Ängste auf Seiten der Arbeitgeber und Unsicherheiten auf Seiten der Kostenträger dar.
Noch immer müssen Menschen mit Behinderungen den Großteil ihres Lebens durchplanen. Spontan mit der Bahn verreisen? Nicht möglich, Aufzüge sind defekt oder es ist kein Servicepersonal vorhanden. Im Lieblingscafé einen Kaffee genießen? Nicht möglich, da keine barrierefreien WCs vorhanden sind. Mit Freunden ins Kino gehen? Nicht möglich, denn der barrierefreie ÖPNV in ländlichen Strukturen ist rar.
Dies, sehr geehrter Herr Steinmeier, sind nur einige, kurz angerissene Beispiele, die die Lebenswirklichkeit von Menschen mit Behinderungen nicht im Ansatz vollumfänglich beschreiben können.
Verbände aus der Interessen-, und Selbstvertretung arbeiten unermüdlich an politischen Forderungen, was sich in unserem Land verändern muss, um der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention näher zu kommen. Dennoch gibt es immer wieder Rückschläge durch vermeintlich gut gemeinte, aber schlecht gemachte Gesetzesinitiativen auch auf Bundesebene. Genannt seien an dieser Stelle der aktuelle Entwurf zum RISG – Reha- und Intensivpflegestärkungsgesetz, welcher die Selbstbestimmung von hochgradig pflegebedürftigen Menschen massiv beschränkt oder auch Teile des BTHG – Bundesteilhabegesetz, welches Menschen mit Behinderung, die auf Assistenz angewiesen sind, finanziell immer noch nicht gleichstellt.
Solche Beispiele zeigen, wie sehr die politische Wahrnehmung und die tatsächliche Lebenswirklichkeit, mit welcher Menschen mit Behinderungen am Ende konfrontiert sind, auseinander gehen.
Von daher möchten wir an dieser Stelle nicht die Vielzahl an Forderungen aus der Interessen- und Selbstvertretung wiederholen, da diese hinreichend bekannt sind. Vielmehr appellieren wir an Ihren Menschenverstand, stellvertretend für alle Akteure der politischen Ebenen:
Nehmen Sie uns als Menschen mit gleichen Rechten wahr. Nehmen Sie uns als Menschen mit gleichen Wünschen und Bedürfnissen wahr und reduzieren Sie uns Menschen mit Behinderungen nicht auf den Kostenfaktor „Behinderung“. Hören Sie uns zu. Denn „Nichts über uns ohne uns!“
Inklusion, Teilhabe und Chancengleichheit sind Menschenrechte nach der UN- Behindertenrechtskonvention. Diese zu verwehren heißt Menschenrechtsverletzung zu betreiben, denn „niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“ (Art. 3 Absatz 3. Satz 2 Grundgesetz).
Mit freundlichen Grüßen
Annika Schmalenberg
Vorsitzende Beirat für Menschen mit Behinderung LK MSE
Autor/in: Annika Schmalenberg